Ausgabe | 2 - Mai 2021 |
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Autor*innen | Tabitha Walther |
© Martin Frick
Beschwingter ökumenischer Gottesdienst in der Offenen Kirche Elisabethen: «Mini Farb und Dini, das git zämme zwoi!»
Viele Menschen leben mit einer Behinderung. Weltweit dürften es etwa 15 Prozent der Bevölkerung sein. Diese Menschen entsprechen in manchem nicht der Norm. Damit ist die Welt für sie suboptimal eingerichtet: Gebäude sind nicht barrierefrei zugänglich oder gar nicht. Die Schule ist nicht auf ihre Bedürfnisse und Begabungen ausgerichtet. Texte sind unverständlich. Die Welt tickt zu schnell. Das Berufsleben ist gespickt mit Herausforderungen. Manche Menschen sind von Geburt an behindert, andere werden es durch Krankheit oder Unfall. Für viele wird im Alter Hören, Sehen oder Verstehen schwierig. Behinderung betrifft deshalb nicht nur einige wenige, sie trifft die Gesellschaft in ihrer Mitte.
Verschiedene Vereine und Organisationen setzten sich für die Selbstbestimmung und Inklusion von Menschen mit einer Behinderung ein. Es gibt unzählige Wohnformen, betreutes Wohnen, Wohngruppen und Heime, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit einer geistigen Behinderung eingerichtet sind. Dort leben sie mit grösstmöglicher Freiheit und der notwendigen Betreuung in einer Art Grossfamilie. Wer einer Arbeit nachgeht, ist stolz darauf. Andere finden Beschäftigung in der Tagesbetreuung, in Ateliers und Werkstätten. Insbesondere insieme setzt sich für die Bedürfnisse geistig behinderter Menschen ein. insieme bietet zum Beispiel ein vielfältiges Freizeitprogramm und Ferienwochen.
Auch verschiedene Kantonalkirchen haben zunehmend die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit einer geistigen Behinderung erkannt. Sie fördern nach Möglichkeit die religiöse Individualität und Zugehörigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die katholische Kantonalkirche Zürich oder die Evangelisch-reformierte Kirche Basel-Stadt haben eigenes eine sogenannte «Behindertenseelsorge» eingerichtet:
www.erk-bs.ch/behindertenseelsorge
Als Pfarrerin für Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung der ERK BS habe ich ein Kleinstpensum von 20 Stellenprozenten. Auch hier ist das Ziel Inklusion und Selbstbestimmung: Gottesdienste sind in einer leichten Sprache gehalten und arbeiten mit viel Bewegung, Schwung und Freude. Ökumenische Angebote und interreligiöse Begegnungen sind Bestandteil des Angebots von Feiern und Bildungsanlässen. Workshops sind stark rhythmisiert und sprechen Kopf, Hand und Herz an.
Eine junge Dame wartet darauf, dass wir endlich gemeinsam die Moschee besuchen können. Ihre Neugier ist geweckt aber dieses blöde Virus macht sie warten. Auch für Menschen ohne religiöse Bedürfnissen und ohne «Hang» zur Kirche bietet das Pfarramt Angebote zur Persönlichkeitsentfaltung: Gespräche in den Wohngruppen über existenzielle und philosophische Themen, gemeinsames Musizieren und besonders das legendäre Fondueschiff im November auf dem Rhein: Die Schifflände und die «Christoph Merian» sind (zum Teil) Rollstuhl gerecht eingerichtet, die Crew auf unsere besonderen Bedürfnisse eingestellt (wir brauchen zum Beispiel eine halbe Stunde, bis alle 200 Personen eingestiegen sind) und die Party ist in der Regel laut, ausgelassen und verziert mit vielen spontanen Gesangs-, Tanz-, Schnitzelbangg- und Redeeinlagen. Ein nachdenklich stimmender Wermutstropfen: Seit 2019 kann die Kirche die Stelle finanziell nicht mehr tragen. Die Kosten werden nun durch Drittmittel, zu einem wesentlichen Teil von Behinderteninstitutionen und Spenden, gedeckt. Das Fondueschiff finanziert die Zunft zu Rebleuten seit über 25 Jahren.
Covid-19 hat die Lebensrealität der Menschen in den Wohngruppen massiv verändert. Viele Einschränkungen treffen sie besonders. Die verletzlichsten Personen erleben am meisten Einschränkungen. Die Quarantäne ist kaum auszuhalten – auch für das Betreuungsteam. Gemeinsames Arbeiten oder Kreativsein, ja manchmal gar gemeinsames Essen in der Wohngruppe, ist zum Teil nicht möglich. Besuche bei der Familie oder Besuche empfangen ist gar nicht oder nur eingeschränkt erlaubt.
Andere, die jung und fit sind, gehen schon länger wieder ihrer Arbeit nach. Die Gottesdienste der Behindertenseelsorge finden online statt und können als Premiere oder bei Bedarf online geschaut werden:
www.erk-bs.ch/behindertenseelsorge
Die Besuche in den Wohngruppen werden durch Spaziergänge im Freien zu zweit oder zu dritt ersetzt. Auf den Kafi-Halt verzichten wir. Manchmal bringen wir nun unsere eigene Bar mit und stossen auf einem Bänkli am Weg an. Wer mit dem Rollator unterwegs ist, hat eh immer sein eigenes Bänkli dabei. Über das Telefon ist es möglich, Menschen im Spital oder in der Quarantäne zu begleiten. Aber auch hier finden Abdankungen auf dem Friedhof im kleinsten Kreis statt. Gedenkfeiern in den Wohngruppen müssen warten.
Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen kommen der ganzen Gesellschaft zugute. Zum Beispiel das «Büro Leichte Sprache Basel». Es übersetzt und verfasst barrierefreie Texte und bietet Weiterbildungen zum Thema an. Sie lassen Ihre «Übersetzungen» von Menschen mit Beeinträchtigungen auf ihre Verständlichkeit hin prüfen.
Auch im Büro für Leichte Sprache von Pro Infirmis Zürich werden komplizierte Texte verständlich. Dies kommt allen Menschen zugute, denen das Lesen schwerfällt.
Besonders hilfreich ist die «Patienten·verfügung» in Leichter Sprache, die das «wohnwerk. Begleitet leben und arbeiten» herausgibt. Bestellt werden kann sie per E-Mail unter leichte-sprache(at)wohnwerk-bs.ch. Die Erstbestellung ist gratis.
*Tabitha Walther ist Fachleiterin Christentum am Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog und im Teilzeitpensum Pfarrerin in der Behinderten-Seelsorge