Ausgabe | 2 - Mai 2021 |
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Autor*innen | Wolf Südbeck-Baur |
Amir Dziri
Amir Dziri ist Professor für Islamische Studien am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft SZIG an der Universität Fribourg.
Sein Forschungsschwerpunkt ist u. a. der Islam in postsäkularen und pluralen Gesellschaften.
Amir Dziri, ihre Familie stammt aus Tunesien, Sie sind im Rheinland aufgewachsen und sozialisiert. Was sind für Sie die Eckpfeiler einer muslimischen Familie, wenn Sie den interreligiösen und interkulturellen Hintergrund betrachten?
Amir Dziri: Familie ist ein Symbol und Ort der Unverhandelbarkeit und Zugehörigkeit. Für mich persönlich gehören die Eltern, die Geschwister und die Grosseltern dazu, zu denen aufgrund der Migrationssituation leider nur sporadisch Kontakt möglich war. Inzwischen gehört auch meine eigene Familie, die noch in der Gründungsphase ist, dazu. Insofern unterscheide ich zwischen Herkunftsfamilie und der eigenen Familie. Diese Umbruchsphasen treten in jeder Lebensbiographie auf.
Hat Religion Einfluss auf die existenziellen Entscheidungen, wenn es vor dem Hintergrund solcher Umbruchsituationen um das Verhältnis der Generationen geht?
Existenzielle Fragen – woher komme ich? wer bin ich? Wo will ich hin? – werden in der Familie als erster Beziehungsort verhandelt. Dabei wird man bereits innerhalb der eignen Familie mit anderen Perspektiven auf das Leben und auf ethische Fragen konfrontiert. Zugleich ist dieser Findungsprozess ein Übungsfeld, mit unterschiedlichen Perspektiven und moralisch-ethischen Haltungen umzugehen und bereitet Kinder auf die säkulare und plurale Gesellschaft vor. Fällt die Familie als wichtiges Übungsfeld für unterschiedliche ethische und religiöse Haltungen aus, wird es auch in der Gesellschaft schwer, unterschiedliche Haltungen zu ertragen.
Ist Religion im Blick auf den interreligiösen Kontext eine Hilfe oder ein Hindernis?
Sowohl als auch. Es gibt religiöse Verständnisse, die sich versteifen und die Religion über die Familienbande heben. Sie halten zum Beispiel daran fest, dass ein Muslim nicht in einer christlichen Familie leben kann. Im muslimischen Kontext ist die Frage der bi-religiösen Ehe brennend. Viele haben die Haltung, dass es muslimischen Frauen nicht gestattet sei, nicht-muslimische Männer zu heiraten. Das ist ein grosses Problem, das theologisch und sozial noch nicht gelöst ist.
Was verändert sich in der Familie, wenn man sich in einem Land mit einem ganz anderen kulturellen Hintergrund befindet?
Es bildet sich eine Migrationsreligiosität heraus. Darunter verstehen wir eine Familienkultur, bei der die Familie in der Migration verstärkt zu einem Rückzugsort wird, zu einer Art Schutzhafen, wo man sich gegenseitiger Solidarität, manchmal auch gegen die Gesellschaft vergewissern muss. Dieses soziologische Faktum ist aber nicht spezifisch muslimisch, sondern allgemein gültig. Diese Beobachtung ist auch kein länder- oder kulturspezifisches Phänomen, sondern trifft gleichermassen etwa auf Deutsche zu, die nach Brasilien emigrieren und dort eine deutsche Bäckerei gründen, weil sie gerne ihr gewohntes Brot essen wollen.
Wie verändert sich das Verhältnis der Generationen?
Werden die Kinder der ersten Einwandergeneration durch die Schule in die Gesellschaft integriert, ergeben sich erste Spannungen, weil sich die Funktion der Familie als erster Bezugsort langsam auflöst. Die Kinder lernen die Landessprache, lernen, wie die Gesellschaft funktioniert, lernen, sich zurecht zu finden. Ich denke, es ist wichtig, dass Familien in einer solchen Migrationssituation einen Übergang finden angesichts der neuen Lebenslage, die für sie keine Bedrohung mehr bedeutet, sondern für die Kinder und auch für die Elterngeneration neue Perspektiven bietet.
Was ändert sich für die Kinder und Jugendlichen konkret?
Kinder der ersten und zweiten Generation erleben sehr häufig, dass ihre Eltern Angst haben, dass ihre Kinder orientierungslos in ihr Leben starten. Diese Kinder müssen lernen, zwischen diesen Polen zu jonglieren. Dabei konnten wir feststellen, dass viele Jugendliche ihr Verhältnis zu ihrer Religion und Identität im schweizerischen Kontext reinterpretieren. Dazu haben sie sich zusammengetan und neue Organisationen wie zum Beispiel das Young Swiss Muslim Network gegründet. In diesem Rahmen diskutieren und durchdenken muslimische Jugendliche all ihre Fragen rund um Religion und Identität neu. Auf diesem Weg entstehen in solchen Peergroups interessante Transfermomente, die eine spannende Dynamik in Gang bringen.
Dies läuft nicht mehr unbedingt über den traditionellen Rahmen der Moschee, sondern häufig über soziale Medien oder spontane Treffen. Für die Elterngeneration ist es dann wichtig, loszulassen und in solchen Situationen ihrem Nachwuchs zu vertrauen, dass sie ihre eigenen Lebensentwürfe in einer neuen gesellschaftlichen Umgebung realisieren können. Damit ändert sich die Rolle der Eltern vom Beschützer zum Begleiter ihrer Kinder, die ehemalige Haltung der Obhut und Vorsicht kann zum Erkennen neuer Möglichkeiten und Ressourcen führen. Darum sind die inklusiven Kontaktmöglichkeiten, die sich auch für die Elterngeneration über die sozialen Institutionen der Kinder eröffnen, sehr wichtig.
*Wolf Südbeck-Baur ist Redaktor des aufbruch, der unabhängigen Zeitschrift für Religionen und Gesellschaft. Er lebt und arbeitet in Basel.